Die echte Achtsamkeit – der notwendige Weg zu den Gängen meiner inneren Hölle

Ständig neue Übungen, Methoden, Ansätze, die uns verkauft werden, damit wir endlich schmerzfrei, erfüllt und glücklich sein können! Wenn du erst diese oder jene Methode anwendest, die ich dir verkaufe, dann wird es dir besser gehen! Was geschieht? Wir lassen uns durch ein geschicktes (psychologisch raffiniertes) Marketing überzeugen und fachen die Hoffnung in uns an, dass wir gerettet werden können, wenn wir nur außerhalb von uns nach etwas greifen, das wir noch nicht haben. Lassen wir uns darauf ein, dann entrollt sich eine verkaufsförderliche Handlungskette, an deren Anfang auf unserer Seite ein Gefühl des Mangels steht. Unsere ganze Kultur des Kaufens und auch des Liebens (Brauchens) wurzelt in diesem Mangelgefühl, dieser Leere, die wir reflexhaft überspringen, um uns mit angenehmen Gefühlen zu beruhigen (und die darunter eingesperrten dunklen Gefühle nicht zu fühlen), welche in der Sehnsuchtsbewegung nach außen für eine gewisse Zeit im Kontakt mit unserer Umwelt durchaus aufleben können. Doch es bleibt im Hintergrund die unzulässige Leere. 

Der erwachsene Überblick

Deshalb reden viele von Achtsamkeit; doch wie viele leben sie? Echte Achtsamkeit ist der Anfang vom Ende. Vom Ende unserer Sucht, uns zu übergehen, damit die Welt uns noch ein paar Krümel Liebe und Lust auf unseren leeren inneren Teller träufelt. Denn wenn wir achtsam werden, geschieht eine Umwendung in unserer inneren Aktivität. Jetzt wird es spannend. Wenn wir im Mangel nach außen streben und die Leere befüllen, bemächtigen sich innere Anteile unserer Denkkraft, die aus einer frühen Zeit unseres Lebens stammen, als wir tiefe Wunden erfuhren und uns Liebe (Verbundenheit) und Anerkennung versagt geblieben sind. Es sind die kleinen Kinder in uns mit ihren qualvollen Gefühlen, und es sind ihre Schutzfiguren. Zu diesen Anteilen und ihrer lebensbestimmenden Dynamik gibt es reichhaltige und wegweisende Literatur, an andere Stelle mehr dazu. Jetzt wird es also spannend! In dem Augenblick, in dem wir innehalten und einen blitzartigen Überblick darüber erhalten, wie getrieben und außenfokussiert wird sind, übernimmt eine Instanz in uns den Lebensgestaltungsprozess, die wir im Spiegel erblicken können, wenn wir etwas länger hineinblicken: wir als der Erwachsene. Der Überblick als Geflecht einfacher Gedanken ruht in uns als dem (zumindest in diesem Augenblick) Erwachsenen.

Wir halten fest: Das Denken wechselt zum Erwachsenen über und es wird ruhiger und klarer, wo es zuvor aufgewühlt und ziellos kreisend war. Wie fühlt sich das an? Darauf kommt es an! Wie ein Luftholen. Wie der Blick von einem Berggipfel hinab ins Tal. Wie eine kalte Dusche, wenn das Wasser uns endlich überall umfließt, nachdem wir uns gewunden hatten. Aber auch ein wenig wie Entzug. Davor war so viel los, und wir waren doch auf dem Rücken unserer galoppierenden hoffnungsvollen inneren Bilder schon fast am Ziel unserer Träume! Das schmerzt. Es schmerzt uns auch, wie abhängig wir uns fühlen und verhalten. Es quält uns womöglich die Frage, ob wir damit überhaupt aufhören können. Und sollen – was nützt uns dieser Überblick über uns, wenn wir uns am Ende doch wieder nach draußen kämpfen müssen, um im Leben zu bekommen, was wir zu brauchen glauben, damit unsere Bedürfnisse gestillt sind?

Psychodynamisch bewusste Achtsamkeit

Eine intellektuelle Antwort auf die aufkommenden Zweifel gibt es an der Überblicksstelle nicht. Jedenfalls keine, welche uns auf weitere Pfade bringt. Es ist nun Zeit, wahrzunehmen und zu fühlen. Und zwar genau jene Gefühle, welche wir in unserer Getriebenheit ständig überschreiten. Damit wird dieses wohlig-friedvolle Konzept von Achtsamkeit, das uns endlich den „inneren Frieden“ bringen soll, erst einmal sehr häufig zur Pforte zu unserer inneren Hölle. Das ist gut so. Denn echte Achtsamkeit verändert uns in unserem Verhältnis zu uns selbst und zur Welt dadurch tiefgreifend, dass sie vorsieht, dass wir uns auf das Beobachten einlassen. Da wir aber als Beobachter keine weltenthobene Instanz sind, sondern ein Wesen mit einer Geschichte und mit Bedürfnissen, gerät in einer psychodynamisch aufgeklärten Achtsamkeit auch die Frage in den Blick, wer da denn alles beobachtet. Wir werden feststellen: Da gibt es einen Erwachsenen, der sich um Klarheit und Innehalten bemüht, und es gibt zugleich Anteile in uns, die auch in der bewussten Beobachtung noch aktiv sind und aus der Achtsamkeit eine Bedürfnisbefriedigung aufbauen wollen! Das zu erkennen ist wichtig. Denn auf diesem Erkenntnisfundament wird uns deutlich, dass es unsere Aufgabe als Erwachsener ist, in der bewussten Beobachtung auch unsere inneren Stimmen und Anteile zu beobachten. Damit zum einen wir unsere erwachsene Bewusstheit immer wieder einnehmen können, damit zum anderen aber das bewusste Beobachten nicht zu einem Abspalten unsere Gefühle wird, die ja gerade in unseren inneren Stimmen leben. Denn träte das ein, dann würde unser bewusstes Beobachten nur unseren Ausgangszustand der Mangelbefriedigung festigen. Dieses Mal im Kleide des spirituellen Bypassings, das uns vom Unerträglichen in uns hinauf, hinaus, hinein in den Frieden, zu Mutter Erde, zum Göttlichen führen soll.

Vor den Schächten in uns

Wir atmen an dieser Stelle einige Male tief ein und aus. Es ist jetzt ein fester Boden erreicht. Echte Achtsamkeit ruht im Erwachsenen und integriert, nimmt sich selbst wahr, ist sich der eigenen Psychodynamik bewusst, zwinkert unserer vormaligen psychologischen Naivität liebevoll zu. Und wenn diese echte Achtsamkeit da ist, dann gibt es vor uns kein Entrinnen. Denn nun, endlich, öffnen wir die Schächte in uns und blicken hinab in die tiefer und weiter unten im Körper aufkeimemden dunklen Gefühle. Wir sind da und wir halten die Frage wach, immer und immer wieder: Was nehme ich gerade in mir wahr, während ich nach unten gehe? Und das bedeutet: Was fühle ich in mir? Wo im Körper fühle ich diese Gefühle und wie erlebe ich diese Gefühle körperlich? Was spüre ich in meinem Körper? Wir tun hier nichts, als uns selbst wahrzunehmen. Was nehme ich gerade wahr – diese Frage können wir später ausdehnen auf unsere Körpergrenze und auf unsere Umwelt. Doch zunächst und irgendwann zwingend geraten wir selbst in den Blick. Es muss so sein! Denn sonst springen wir schnell auf die Rennbahn und optimieren unsere Schattenkinder weg.

Entzug und Selbsttherapie

Echte Achtsamkeit macht also weder Spaß noch im gewohnten Sinne glücklich. Sie ist Entzug. Wir sträuben uns gegen sie. Wir reden innerlich gegen sie an. Wir schauen uns noch ein Youtube-Video an. Wir treiben im Internet dahin. Wir essen erst noch etwas. Nur nicht fühlen. Oder wenn, dann später. Echte Achtsamkeit führt uns hinab in uns und ist eine Form der Selbsttherapie, ohne dass es natürlich die Gewissheit einer Heilung gäbe. Denn bewusstes Beobachten, wo es ganz vom seiner selbst und seiner inneren Kinder bewussten Erwachsenen getragen wird, verzichtet auf Erwartungen, Urteile und Hoffnungen. Im bewussten Beobachten überlässt sich der Beobachter dem Beobachten, gibt sich ihm hin, und wird zu bewusstem Beobachten. Er WIRD. Er wird zu einem zugewandten, erkundenden Umfließen aller Erscheinungen und löst sich immer von seinen Gedanken. Er WIRD. Einfache Erkenntnisse und Worte leuchten auf – „da ist“, „da zeigt sich“, aber die sehnsuchtsgetriebene Gedankenkette verliert ihre Geschwindigkeit und verblasst. SEIN stellt sich ein. Ich übergebe mich meinen Gefühlen, so schmerzhaft sie auch sein mögen. Ich gehe in meine dunklen Schächte, Gänge und Schluchten. Dorthin, wo keiner verweilen mag. Was entdecke ich dort? Wer begegnet mir dort?

Wie ich Achtsamkeit verstand und heute verstehe

Mein Verständnis von Achtsamkeit hat sich über die Jahre gewandelt. Ich bin mit ihr in Verbindung seit 2014 oder 2015. In den ersten Jahren habe ich sie vor allem auf meinen Körper gelenkt, auf die Körpergrenze und auf die Erscheinungen in der Natur. Ich habe oft im Wald praktiziert. Durch schwere Krisen in den letzten Jahren wurde mir zunehmend klarer, dass meine Praxis einen wesentlich Bereich in der Tiefe gemieden hat: meine alten Gefühle, meine inneren Wunden, meine gespeicherten Traumatisierungen. Doch ich habe mich zunächst immer noch schwerpunktmäßig auf die kognitiven Prozesse der Achtsamkeit ausgerichtet und sie begeistert erforscht, davon zeugt dieser Artikel von 2020. Diese Vorarbeit bleibt gültig, weil sie darauf verweist, wie viel wir auf unserem Weg der Bewusstheit verdanken, durch die solche therapeutischen Prozesse wie Traumaheilung überhaupt erst in unser Blickfeld geraten können – wir brauchen einen inneren Aussichtspunkt. Dann wurde mir deutlich, dass ich meinen inneren Wunden mehr Aufmerksamkeit schenken möchte und muss, wenn die anderen Sphären der Achtsamkeit nicht einem spirituellen Bypassing anheim fallen sollen. Echte Achtsamkeit führt mich in meine Tiefen und verlangt von mir, dort zu bleiben, wo sich niemand aufhalten will, und wo sich tatsächlich auch nur wenige Menschen überhaupt jemals aufhalten: im Vorhof meiner kindlichen Wunden, wo ich die dunklen Gänge und Schächte in mir bereits spüren kann, die Gänge der Einsamkeit, der ohnmächtigen Wut, der verbotenen Lust, der abgründigsten Trauer. Die Gänge meiner Hölle. Wahrscheinlich bewegen den buddhistischen Achtsamkeits-Lehrer Jack Kornfield ähnliche Gedanken, wenn er davon spricht, dass nur wenige Menschen jemals bereit waren, den gegenwärtigen Augenblick tatsächlich zu erforschen.

Was ich in diesen Gängen erlebe, und ob es dort auch Helle gibt, darüber werde ich an anderer Stelle schreiben. Für heute bin über eines froh: dass mich die echte, psychologisch bewusste Achtsamkeit des Erwachsenen vor mich bringt, wie ich bin. Der erste Abschnitt des Weges ist geschafft.

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